Wir irrationalen Geister: von den systematischen Denkfehlern der Menschen

Anlagethema, August 2017

Wir irrationalen Geister: von den systematischen Denkfehlern der Menschen

Beginnen wir mit einem Paukenschlag: Lieber Leser, wir müssen Ihnen mitteilen, dass Sie als Vertreter der Spezies Homo sapiens sapiens zwar vernunftbegabt sind, jedoch in weit geringerem Ausmass, als Sie gedacht hatten. Sie sind kein Homo oeconomicus, kein vollständig rationaler Nutzenoptimierer, der beharrlich und zu jeder Zeit alle verfügbaren Informationen abruft und auf Basis von emotionslosem Abwägen nüchterne Entscheidungen trifft. Bitte fühlen Sie sich nun nicht angegriffen. Womöglich haben wir Sie falsch eingeschätzt: Sie sind eines der wenigen Exemplare der Gattung Mensch, welches seine Emotionen vollkommen und vollständig abschalten kann, wenn es um finanzielle Entscheidungen geht. Bitte entschuldigen Sie.

Für diejenigen unter Ihnen, welche sich eingestehen müssen, dass Emotionen leider nicht abgeschaltet werden können, möchten wir im Folgenden verschiedene Konzepte und Erkenntnisse aus dem Gebiet der Behavioural Finance («Verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie») darlegen. Sie werden nach der Lektüre, dies unsere Voraussage, zwar keine «fehlerfreien» Entscheidungen mehr treffen. Hingegen hoffen wir, dass Sie die eine oder andere Erkenntnis in Ihrem persönlichen finanziellen Betätigungsfeld umsetzen können. Denn wir sind überzeugt, dass Sie damit die eine oder andere höchst (emotionale) unangenehme Erfahrung vermeiden können. Frei nach dem Motto «Erkenne Dich selbst!», das gemäss Überlieferung als Inschrift über dem Eingang des Tempels von Delphi stand, dem Standort des antiken Orakels.

Heuristiken
Gemäss Hersh Shefrin, dessen 1999 erschienenes Buch «Beyond Greed and Fear» als erste umfassende Darstellung der Behavioural Finance betrachtet werden kann, können drei Hauptthemen unterschieden werden. An erster Stelle sind Vereinfachungen («Daumenregeln») zu erwähnen, auch als Heuristiken bekannt – die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen.

Bezugssystem-Abhängigkeit
Als zweites Themengebiet nennt er die sogenannte «frame dependence» (Bezugssystem-Abhängigkeit), d.h. den Einfluss der Darstellung eines Problems (gewissermassen die Form) auf den Entscheid, im Gegensatz zu den objektiven Entscheidungsparametern (dem Inhalt). Ein Beispiel: Ein Hemd kostet im Laden A 50 Schweizer Franken. Das exakt gleiche Hemd gibt es im Laden B ebenfalls für 50 Franken zu erstehen, angeschrieben ist es mit «33% Rabatt auf 75 Franken». Eine beträchtliche Anzahl Menschen lässt sich dadurch beeinflussen, d. h. sie schätzt den Wert des Hemdes in Laden B höher ein und kauft eher in diesem Laden ein, obwohl der Inhalt (exakt das selbe Hemd) sich nicht unterscheidet.

Ineffiziente Märkte
Das dritte Themengebiet kann mit dem Begriff der «ineffizienten Märkten» umschrieben werden. Es geht um die Auswirkungen der Heuristiken und Bezugssystem-Abhängigkeiten der Marktteilnehmer auf die Märkte und die Preissetzung der zu handelnden Vermögenswerte, namentlich Abweichungen von fundamentalen Werten. Im Gegensatz dazu beruht die traditionelle Finanztheorie auf der Annahme effizienter Märkte (die sogenannte Effizienzmarkthypothese). Damit ist der Grundsatz gemeint, dass zu jedem Zeitpunkt der Preis eines Wertpapiers mit den momentan verfügbaren fundamentalen Informationen übereinstimmt. «Blasen» bzw. «Fehlbewertungen» können in dieser Perspektive gar nicht auftreten.

Prospect Theory
Die beiden Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (in der Folge KT) haben Ende der 1970er Jahre eine Theorie geprägt, die unter dem Begriff der «Prospect Theory» (deutsch: Neue Erwartungstheorie) bekannt wurde. Damit konnten sie zeigen, dass eine Vielzahl von Verhaltensexperimenten zu Resultaten führen, welche die bis dahin geltende Erwartungsnutzentheorie (Expected Utility Theory «EUT» in den 1940er Jahren veröffentlicht) in Frage stellt. Die Prospect Theory basiert auf empirischen Beobachtungen menschlichen Verhaltens und ist als realistischere Alternative zur EUT zu betrachten, indem sie die Neigung des Menschen zur Vereinfachung komplexer Probleme mittels Vereinfachungen (Heuristiken) nebst anderen Faktoren miteinbezieht. Es handelt sich somit um eine Theorie, welche die lange als gültig betrachtete Annahme, der Mensch sei (im Durchschnitt) ein vollständig rationales Wesen, welches seinen Eigennutzen maximiert, frei von Emotionen ist und keine Fehler in der Informationsaufnahme bzw. –verarbeitung macht (die Definition des klassischen Homo oeconomicus), in Frage stellt.

Fehlerhaftes Einschätzen von Wahrscheinlichkeiten
Fehlerhaftes Einschätzen von Wahrscheinlichkeiten Ein wichtiger Punkt in der Prospect Theory ist die Tendenz des Menschen, geringe Wahrscheinlichkeiten zu überschätzen bzw. hohe Wahrscheinlichkeiten zu unterschätzen. Man spricht hier von einer Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion des Menschen: Niedrigen (objektiven) Wahrscheinlichkeiten, beispielsweise der Wahrscheinlichkeit, dreimal hintereinander eine Sechs zu würfeln (knapp 0,5 % Wahrscheinlichkeit, genau: 6-3), werden mittels dieser «menschlichen» Gewichtungsfunktion höhere subjektive Wahrscheinlichkeiten zugewiesen. Ebenso scheint der Mensch hohe Wahrscheinlichkeiten, also hier die Chance, dass NICHT dreimal hintereinander eine Sechs gewürfelt wird, tendenziell zu unterschätzen – d. h. mit einem Wert deutlich unter 99,537 % zu versehen. Hier kommt der Begriff des «Sicherheitseffekts» ins Spiel, den KT identifiziert hatten und der auf den französischen Ökonomen Maurice Allais zurückgeht. In diversen Experimenten konnten sie zeigen, dass die deutliche Mehrheit der Probanden nicht den Erwartungswert (also den mit den objektiv feststellbaren Wahrscheinlichkeiten summierte Wert einer Lotterie) maximieren, sondern andere Präferenzen zu haben scheinen. Man stelle sich das folgende Problem vor: Man wähle zwischen A und B. A ist eine Lotterie mit den Auszahlungen (ihre Wahrscheinlichkeit in Klammern) CHF 2'500 (33 %), CHF 2'400 (66 %), CHF 0 (1 %), während B eine Auszahlung mit Sicherheit (also 100 %) im Umfang von CHF 2'400 bedeutet. Über 80 % der Probanden haben Option B gewählt, obwohl deren Erwartungswert (CHF 2'400) geringer ist als derjenige von Option A (CHF 2'409). «Die Leute» ziehen den sicheren Wert von Option B vor, obwohl die Chance, nichts zu gewinnen, lediglich bei einem mageren Prozentpunkt liegt, d. h. ungefähr der Wahrscheinlichkeit entsprechend, zweimal hintereinander eine Sechs und beim dritten Wurf entweder eine Fünf oder eine Sechs zu würfeln. Man spricht hier vom Sicherheitseffekt, weil wir Menschen sichere Ereignisse unsicheren vorziehen. Hier kommt zudem die Aversion zu bereuen (regret aversion) ins Spiel: Wir richten unser Handeln dahingehend aus, dass wir das Risiko minimieren, später etwas bereuen zu müssen, wie z. B. einen Verlust oder einen entgangenen Gewinn. Dies ist ganz und gar nicht rational, denn wir sollten uns damit abfinden, dass viele Dinge vom Zufall abhängen.

Interessant wird die Inkonsistenz der menschlichen Entscheidungen unter Unsicherheit, wenn zusätzlich die folgende Lotterie betrachtet wird: Man wähle zwischen C: CHF 2'500 (33 %), 0 (67 %) und D: CHF 2'400 (34 %) und 0 (66 %). Hier wählten über 80 % der Probanden Option C. An sich ist die Wahl zwischen C und D dieselbe wie diejenige zwischen A und B, nur dass bei C bzw. D der Betrag CHF 2'400 mit Wahrscheinlichkeit von 66 % von A bzw. B eliminiert wurde. Über 60 % der Teilnehmer zogen Option B Option A vor und Option C Option D – eine offensichtliche Verletzung der Rationalitätsannahme, nicht?

Ein gutes Beispiel, anhand dessen gezeigt werden kann, wie niedrige Wahrscheinlichkeiten stärker gewichtet werden, ist die folgende Frage: Sie können wählen zwischen G: dem Gewinn von CHF 6'000 mit Wahrscheinlichkeit 45 % und H: dem Gewinn von CHF 3'000 mit Wahrscheinlichkeit 90 %. Wie wählen Sie? Über 85 % der befragten Teilnehmer hatten sich für Option H entschieden. Wenn diese Wahl aber mit den folgenden Wahrscheinlichkeiten versehen wird: Option I: CHF 6'000 mit Wahrscheinlichkeit 0,1 % vs. Option J: CHF 3'000 mit Wahrscheinlichkeit 0,2 % - würden Sie Ihre Wahl ändern? Die deutliche Mehrheit (73 %) hat in der Tat Option I Option J vorgezogen. Dies deckt sich mit anderen Experimenten, worin sich zeigte, dass bei nur sehr geringen Wahrscheinlichkeiten der Mensch dazu neigt, die Option mit dem höheren Gewinn auszuwählen.

Der Reflexionseffekt
Verändert man die Lotterien dahingehend, dass aus möglichen Gewinnen drohende Verluste werden, verändert sich das Verhalten der Menschen deutlich: Aus Risikoaversion (bei Gewinnen, vgl. Optionen A vs. B oben) wird bei Verlusten Risikofreude. Nehmen wir Optionen G und H, mit negativen Werten: G' bedeutet also einen Verlust von CHF 6'000 mit Wahrscheinlichkeit 45 %, H' einen Verlust von CHF 3'000 zu 90 % wahrscheinlich. Welche Wahl treffen Sie? 92 % der Probanden wählten G'.

Relevanter Referenzpunkt
Relevanter Referenzpunkt Wir Menschen unterscheiden also deutlich zwischen Gewinnen und Verlusten, auch das eine wichtige Erkenntnis der Prospect Theory. Gemäss der traditionellen Lehre waren zwei ansonsten identische Menschen (Meier und Huber) mit einem Vermögen von CHF 1 Million gleich glücklich. Man stelle sich aber vor, dass innert kurzer Zeit Meier die Hälfte seines ursprünglichen Vermögens von 2 Millionen verlor, Huber (aus welchen Gründen auch immer) sein Vermögen innert kurzer Zeit auf 1 Million verdoppelte. Sind beide heute gleich glücklich? KT zeigten auf, dass der Mensch stets einen Referenzpunkt benötigt, von welchem aus er die möglichen Veränderungen betrachtet. In der Grafik entspricht der Referenzpunkt dem Ursprung (Kreuzungspunkt der beiden Achsen) des X-Y-Diagramms.

Grafik1

Asymmetrische Nutzenfunktion
Auf den ersten Blick ist ersichtlich, dass die Nutzenfunktion asymmetrisch verläuft: Auf der rechten Seite des Ursprungs (den «Gewinnen») verläuft sie konkav, also mit fallender Grenzrate (für jeden zusätzlichen Gewinn sinkt der zusätzliche Nutzen, «die Freude daran»),während sie auf der linken Seite (bei den «Verlusten») konvex geformt ist. Zudem ist sie links deutlich steiler als rechts. Das bedeutet, dass ein Verlust von z. B. CHF 1000 deutlich stärkere negative emotinnale Auswirkungen hat als ein Gewinn von CHF 1000 mit positiven Emotionen verbunden ist.

Verlierer verbleiben im Portfolio
Im Zusammenhang mit dem Verhalten an den Finanzmärkten darf erwähnt werden, dass Anleger «Gewinnerpositionen» typischerweise zu schnell verkaufen, während sie Positionen mit Verlust halten, in der Hoffnung, dass sich der Verlust reduziert bzw. gar ein Gewinn erzielt werden kann, wenn nur genügend Geduld aufgebracht wird. Anhand der Graphik stelle man sich die folgende Situation vor: Ein Anleger hat vor einem Monat eine Aktie zum Preis von CHF 100 gekauft. Heute steht der Kurs bei CHF 90. Nun muss sich der Anleger entscheiden: Verkauft er heute oder hält er die Aktie weiter, selbst wenn die Chancen 50:50 stehen, dass die Aktie wieder um CHF 10 steigt oder nochmals um CHF 10 fällt? Gemäss den Aussagen der Prospect Theory befindet sich der Anleger auf der unteren Hälfte der Graphik (also bei den Verlusten).

Hier hat sich gezeigt, dass wir Menschen tendenziell risikofreudig sind, die «50:50-Lotterie» also akzeptiert wird und somit die Aktie gehalten wird. Wir machen regelmässig die Erfahrung mit Kunden, die gewisse Positionen partout nicht verkaufen wollen, da sie unter Einstandspreis notieren. Aus rationaler Perspektive müsste die einzige Frage, die zum Entscheid zu verkaufen oder zu halten führt, lauten, ob wir die Position auch heute noch kaufen würden. Nur wenn dies bejaht wird, sollte die Position gehalten werden. Eine Möglichkeit, diesem Umstand zu begegnen, liegt darin, weniger die Realisierung des Verlusts zu bedauern als vielmehr sich klarzumachen, dass der in die Verlustposition investierte Betrag «in eine neue Position transferiert» wird. Mit dieser Perspektive vor Augen wird die Realisierung des Verlusts nur als untergeordneter Schritt einer grösseren Entscheidung (Verkauf und gleichzeitiger Kauf einer anderen Position) wahrgenommen.

Kognitive Dissonanz
Wir Menschen versuchen, unangenehme Gefühle zu vermeiden, die entstehen, wenn Verhalten (finanzielle Entscheidungen etwa) und Einstellung (unser Selbstbild als «gute Anleger» - anderenfalls würden wir in Anlagefragen ja nicht selbst entscheiden) als widersprüchlichempfunden werden, z. B. wenn eine Position in der Erwartung steigender Notierungen gekauft worden war und nun tiefer notiert. Der Begriff er kognitiven Dissonanz wurde in den 1950er Jahren geprägt und spricht genau diesen Punkt an. Da wir grundsätzlich versuchen, Unangenehmeszu vermeiden, entwickeln wir Strategien,diese Dissonanz aufzulösen. Dabei greifen wir auf Scheinlösungen, Illusionen und Ausreden bis zum Nichtwahrnehmen, Leugnen oder Abwerten von Informationen, die unseren Ansichten widersprechen, zurück. Ein Beispiel hierzu wäre die Reaktion eines Rauchers auf den Hinweis, dass er sich selbst schädige, mit der Nennung von Personen, die trotz Rauchens ein hohes Alter erreicht hatten.

Zusammenfassung

  • Wir Menschen sind keine vollständig rational handelnde Wesen.
  • Mittels des Einsatzes von Heuristiken («Daumenregeln») versuchen wir, komplexe Entscheidungen auf verständlichere Ebenen herunterzubrechen.
  • Die Form, wie ein Entscheidungsproblem dargestellt wird, hat Einfluss auf die Entscheidung selbst. Man spricht hier von Bezugssystem-Abhängigkeit («frame dependence»).
  • Das menschliche Verhalten bei Entscheidungen ist abhängig   davon, ob es sich dabei um Gewinne oder Verluste handelt.

WICHTIGE RECHTLICHE HINWEISE

Diese Publikation ist nicht auf die Herbeiführung eines Vertragsschlusses gerichtet, sondern enthält lediglich Markt- und Anlagekommentare von Maerki Baumann & Co. AG sowie eine Einschätzung zu ausgewählten Finanzinstrumenten. Somit stellt diese Publikation weder eine Anlageberatung noch ein Angebot für den Erwerb oder Verkauf von Anlageinstrumenten dar. Maerki Baumann & Co. AG erbringt keine Rechts- oder Steuerberatung. Im Weiteren übernimmt Maerki Baumann & Co. AG keinerlei Haftung für den Inhalt dieses Dokuments und haftet insbesondere nicht für Verluste oder Schäden irgendwelcher Art, einschliesslich direkte, indirekte oder Folgeschäden, die aufgrund von in diesem Dokument enthaltenen Informationen und/oder infolge der den Finanzmärkten inhärenten Risiken entstehen.

Redaktion: Daniel Egger, Chief Investment Officer
Redaktionsschluss: 24. August 2017

Maerki Baumann & Co. AG
Dreikönigstrasse 6, CH-8002 Zürich
T +41 44 286 25 25, info@maerki-baumann.ch
www.maerki-baumann.ch

top